20 Jahre kommunale Kriminalprävention
(Kehl) Kriminalität lässt sich in Zahlen messen. In jedem Frühjahr stellt der Kehler Polizeichef die Statistik vor: Zahl der Straftaten, Art der Straftaten, Zahl der Straftäter, Herkunft, Alter. Verhinderte Straftaten, also die, die nicht stattgefunden haben, sind ungleich schwerer zu erfassen.
Dennoch zeigt sich in Kehl seit 20 Jahren, wie kommunale Kriminalprävention (KKP) wirkt: Seit vielen Jahren hat Kehl nur selten jugendliche Intensivtäter – bezogen auf die rund 37 000 Einwohner „müssten eigentlich vier bis fünf Intensivtäter vorhanden sein“, sagt Polizeikommissar Markus Lautenschläger, Jugendsachbearbeiter bei der Kehler Polizei. Und mehrere auf einmal hat er nur 2018/2019 in einem Ausnahmefall erlebt. Die mussten ihre Strafen auch absitzen, erhielten Bewährungsstrafen oder mussten Arbeitsstunden ableisten. Ulrike Jensen kann das nur bestätigen: „Ich habe sehr selten Kehler Jugendliche in der Bewährungshilfe.“
Das heißt freilich nicht, dass es in Kehl keine kriminellen Jugendlichen gibt. Es heißt aber, dass „die Jugendlichen vorher aufgefangen werden“. Vorher, also bevor es schlimm und schlimmer wird. Bevor sie vor dem Jugendschöffengericht in Offenburg landen. „Dort hat man mit Kehl nicht viel zu tun“, weiß Ulrike Jensen – Mitstreiterin in der KKP seit der ersten Stunde. „In Kehl gibt es niemanden unter 18, der Bewährung hat.“ Und derzeit keinen Intensivtäter. Als Intensivtäter gelten Menschen, die in einem Jahr mindestens zehn Straftaten begehen, darunter mindestens zwei Gewaltdelikte.
Es ist nichts wirklich Spektakuläres, was da in Kehl geschieht und was die Jugendlichen auffängt. Und doch ist es so besonders, dass es bereits mehrfach mit Landes- und Bundespreisen ausgezeichnet wurde. „Das habe ich noch an keinem meiner Einsatzorte so erlebt“, sagt Felix Neulinger bei seinem Besuch im Oktober im Gemeinderat. Er hat sein Amt als Leiter des Kehler Polizeireviers am 1. Januar 2020 angetreten.
„Es sind die vielen kleinen Angebote“, beschreibt es Ulrike Jensen, „die wie Mosaiksteinchen ineinandergreifen“. Geschaffen werden diese vielen kleinen Angebote vom Arbeitskreis Kommunale Kriminalprävention, der sich vor 20 Jahren zusammengefunden hat. Die Initiative ging vom damaligen Oberbürgermeister Dr. Günther Petry aus, der den städtischen Sozialpädagogen Cornel Happe bereits zu Beginn seiner Amtszeit beauftragte, ein Konzept für eine praxisorientierte Kriminalprävention vor Ort zu erarbeiten. Was sich daraus über zwei Jahrzehnte entwickelt hat, hätten die Akteure gerne im Dezember bei einer Veranstaltung in der Stadthalle vorgestellt. Die Corona-Pandemie machte dies unmöglich.
Am Anfang stand die Frage, wer in diesen Arbeitskreis eingeladen werden soll. Welche Einrichtungen mit Kriminalität konfrontiert sind, liegt auf der Hand: Polizei, Jugendrichter, Bewährungshilfe, Ortspolizeibehörde. Geht es jedoch darum, Kriminalität erst gar nicht entstehen zu lassen, sind auch die sozialen Dienste, sind Schulen und Beratungsstellen gefragt. Auch die Jugendhäuser und Treffs sind Teil des Netzwerks, über das versucht wird, Jugendliche anzubinden und anzusprechen. Das lange gemeinsame Wirken im Team der Kommunalen Kriminalprävention „hat ein Klima der Verantwortlichkeit geschaffen“, versucht Ulrike Jensen das spezielle Kehler Phänomen zu beschreiben: Taucht auf einer Ebene ein Problem auf, sucht man gemeinsam nach Lösungen.
Und je intensiver die Zusammenarbeit wurde, desto stärker wurde der Wunsch nach einer Professionalisierung und Verstetigung der Kooperation. Es war der damalige Geschäftsführer des Kreisverbandes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Alfred Armbruster (verstorben 2018), der sich für eine eigene Stelle in der Sozialarbeit im DRK-Kreisverband einsetzte. Zunächst wurde die Stelle vor allem durch Projektmittel mitgetragen, die aus Bundes- und Landesprogrammen kamen; von 2014 an steuerten die Städte Kehl (40 000 Euro) und Rheinau (5000 Euro) sowie die Gemeinde Willstätt (5000) erhebliche Kofinanzierungsbeiträge bei.
Jürgen Neff, damals Leiter des Kehler Polizeireviers, nutzte die Chance, die sich durch die Verstetigung der KKP ergab und machte Polizeioberkommissar Gerhard Fehrenbach zum Präventionsbeauftragten. Mit großem Engagement und Enthusiasmus begleitete er die jeweiligen Inhaberinnen der Stellen für die KKP beim DRK über fünf Jahre hinweg bis zu seiner Pensionierung 2015 in unterschiedlichen Themenbereichen und unterstützte Aktionen und Projekte. Ihm verdankt die KKP beispielsweise die Entwicklung von Sprungtuch – der Amokprävention an Schulen. Auch der große Erfolg von Rückenwind (Jugendliche arbeiten mit gleichaltrigen Delinquenten an Wiedergutmachungsprogrammen) oder Projekte in der Seniorenarbeit zur Aufklärung über Maschen von Trickbetrügern stehen mit seinem Einsatz in enger Verbindung. Die Nachfolger, Ingolf Grunwald, als Kehler Revierleiter und Polizeihauptmeister Rolf Krauß als Präventionsbeauftragter der Polizei, führen die erfolgreiche Arbeit nahtlos weiter und setzen neue Akzente.
Auch wenn immer wieder wichtige Akteure bei der Polizei und beim DRK wechseln, tut dies der engen Kooperation im Beratungsteam der KKP keinen Abbruch. Dass die erfolgreiche Zusammenarbeit mit neuen Personen fortgesetzt werden kann, „zeigt, welch hohe integrative Wirkung das Team entfaltet“, sagt Cornel Happe. „Da war vom ersten Tag Dynamik drin. Soviel Engagement von allen Seiten!“ Mit der Diplom-Pädagogin Jannate Hammerstein, welche die Stelle der Kriminalprävention beim DRK 2014 übernahm, wurde die Arbeit der KKP durch die neue Kontinuität und die Erweiterung des breitgefächerten Programms durch zusätzliche Schwerpunktthemen intensiviert und weiter professionalisiert. Jannate Hammerstein ist heute nicht nur im Beratungsteam der KKP und verschiedenen daraus hervorgegangenen Arbeitsgruppen aktiv, gemeinsam mit der neuen Präventionsbeauftragten des Polizeireviers, Polizeihauptmeisterin Anja Faulhaber, hat sie ein umfangreiches Paket an modernen Präventionskonzepten für die Kinder und Jugendlichen in Kehl, Rheinau und Willstätt geschnürt. Von Medienkompetenz, über Gewalt, Sucht und Cybermobbing bis hin zur Computerspielsucht ist das facettenreiche Programm in vielen Schulen zum fest integrierten Unterrichtsbestandteil geworden. Allein im Schuljahr 2019/2020 wurden – trotz Corona – 1740 Schülerinnen und Schüler erreicht.
Natürlich kann der Arbeitskreis nicht alle Probleme lösen. Spielsucht zum Beispiel. Ulrike Jensen weiß genau, dass junge Menschen, die wegen ihrer Drogen- oder Alkoholabhängigkeit schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, besonders gefährdet sind, auch noch der Spielsucht zu verfallen. Doch auch wenn der Arbeitskreis in diesem Fall nur punktuell helfen kann – „wollen wir nicht nur hilflos zusehen“. In Gaststätten mit Geldspielgeräten hängen seit langem Plakate, die auf den Jugendschutz aufmerksam machen. Geld für solche Aktionen kommt oft vom Verein Courage. Über diesen Verein versucht das Team, die kommunale Kriminalprävention abzusichern. Als gemeinnütziger Verein bekommt Courage Geldbußen von Gerichten zugesprochen und verfügt außerdem über die Mitgliedsbeiträge.
Was die KKP in 20 Jahren an Projekten auf die Beine gestellt hat:
Soziales Lernen
Prima Klima hat den gemeinsamen Aufbau einer Klassengemeinschaft unter Begleitung von fünften Klassen über das erste Schuljahr hinweg zum Ziel. Das Konzept „PrimaKlima in der Schule“ geht davon aus, dass Schulkinder mit gutem Selbstvertrauen und einem guten Selbstwertgefühl, die sich nicht benachteiligt fühlen, die Schwelle zur Delinquenz und/oder Sucht nicht oder nur sehr selten überschreiten. Die Prävention ist für das „PrimaKlima“-Team daher gleichbedeutend mit dem Stärken der vorhandenen Kompetenzen.
Power Games: Die Lust an Bewegung und am Kräftemessen von Jungen in der Pubertät wird pädagogisch genutzt. Durch gemeinsames Kräftemessen anhand von bewegungsorientierten Spielen lernen Jungen sowohl die eigenen Kräfte richtig einzuschätzen als auch fairen Umgang gegenüber dem Kampfpartner und das Einhalten von Spielregeln.
Reise um die Welt ist ein Toleranz-Projekt in der Gemeinwesenarbeit Kehl Dorf zur Aufwertung des eigenen kulturellen Hintergrunds: Kinder stellen ihre eigene Kultur, Religion und Kulinarik vor und vergleichen untereinander.
Präventionsbausteine in den Schulen
5. Klasse: „Mein Handy – Unsere Regeln“: Kinder werden über einen verantwortungsvollen Umgang mit Smartphone und Sozialen Medien aufgeklärt und im Hinblick auf strafrechtliche und zivilrechtliche Konsequenzen sensibilisiert.
6. Klasse: Was ist schon Gewalt? Wo fängt Gewalt an und welche straf- und zivilrechtlichen Konsequenzen können folgen?
6. Klasse: Nicht mit mir! Mädchen lernen Selbstbehauptung und Selbstverteidigung, um sich vor körperlichen Angriffen zu schützen, aber auch subtilen und verbalen Grenzverletzungen nicht sprach- oder hilflos ausgeliefert zu sein.
6. Klasse: Sucht Teil 1: Legale Drogen (Tabak, Shisha, Alkohol)
7. Klasse: Mobbing…und dann? – Jugendliche befassen sich mit den langfristigen Konsequenzen für Opfer, Täter und die Gemeinschaft bis hin zum Amoklauf.
7. Klasse: Cybermobbing in Kooperation mit Law for School und in Zusammenarbeit mit der Rechtsanwältin Gesa Stückmann. In einem Webinar werden Jugendliche im Themenbereich Cybermobbing aufgeklärt. Was erwartet den Täter und wie können sich Opfer wehren?
8. Klasse: Computerspielsucht – In Kooperation mit einem ehemals Spielsüchtigen erfahren Jugendliche, was geschieht, wenn man das Spielen nicht mehr lassen kann.
8. Klasse: Zivilcourage – Weggeschaut ist mitgemacht! Jugendliche erarbeiten gemeinsame Handlungsalternativen in verschiedenen Situationen.
8. Klasse: Sucht Teil 2: Illegale Drogen und Trends
In Zusammenarbeit mit Courage – Sicherheit fördern e.V.
KEIN – Kehler-Eigentums-Identifizierungs-Nachweis: Fahrrädern werden zur Prävention von Fahrraddiebstählen und Wiedererkennung bei sichergestellten Rädern kodiert.
Augen auf – Aufkleber zur Sensibilisierung im Bereich Zivilcourage: Bürgerinnen und Bürger sollen hin- statt wegschauen, wenn jemand in einer Notsituation ist und möglichst helfen oder Hilfe holen.
Jährlich Seminarangebote zu aktuellen Themen:
Reichsbürgerbewegung in Baden-Württemberg, Radikalisierung und Deradikalisierung, Rechte Symbole und Zeichen erkennen, Sozialpädagogisches Arbeiten mit jungen Menschen mit Radikalisierungstendenzen
In Zusammenarbeit mit dem Polizeirevier Kehl:
Rückenwind: Strafunmündige Kinder und Jugendliche erhalten eine pädagogische Reaktion auf ihr Verhalten durch Gleichaltrige. Gemeinsam setzt man sich mit der Tat auseinander und handelt eine Wiedergutmachung aus – zum Beispiel durch Sozialstunden in der Tafel, im Haus der Jugend, durch eine Blutspende, Seniorenarbeit oder Hausaufgabenbetreuung.
Das Projekt wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet: Aktiv für Demokratie und Toleranz, Jugend hilft, Jugendbildungspreis Baden-Württemberg, Stiftung Bürger für Bürger, Deutscher Engagement Preis, Deutscher Bürgerpreis, Echt gut!, Helfer Herzen.
Mach´s wieder gut ist ein Projekt zur Wiedergutmachung eines materiellen Schadens durch Jugendliche und Heranwachsende in Kehl, der weder aus eigenen Mitteln noch über eine Versicherung gedeckt werden kann. Durch das Ableisten von Sozialstunden wird in Kooperation mit dem Verein Courage dem Geschädigten zumindest ein Teilbetrag erstattet.
Die Blauen Briefe sind ein gemeindeübergreifendes System, um mit Ruhestörungen durch Minderjährige präventiv umzugehen.
Mit Testkäufen wird geprüft, ob das Jugendschutzgesetz im Einzelhandel beim Verkauf von Alkohol und Tabak eingehalten wird.
Handtaschendiebstahl: Die Sensibilisierung zum Thema Sicherheit erfolgt besonders in der Vorweihnachtszeit.
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